
Beschämung in der Kindheit: Wie Scham entsteht, was sie mit dem Selbstwert von Kindern macht und wie wir den Kreislauf unterbrechen können – mit Mitgefühl und Bewusstsein.
„Oh Mann, du Tollpatsch, kannst du nicht aufpassen?“
Solche Sätze klingen harmlos – doch sie können Spuren hinterlassen, die weit über den Moment hinausreichen. Denn sie treffen Kinder nicht nur im Verhalten, sondern im Kern ihres Selbstwerts.
Als ich beim Elternabend meines dritten Kindes saß – ohne die geforderten Materialien – überkam mich plötzlich ein bekanntes Gefühl: Ich wollte mich verstecken, am liebsten im Erdboden versinken.
Das war Scham.
Und in diesem Moment war ich nicht die Erwachsene, sondern wieder das Kind, das glaubt: Ich bin falsch.
Diese Erfahrung zeigt, wie tief sich frühe Beschämungen in uns einprägen – und wie schnell sie im Erwachsenenleben wieder aufbrechen.
Scham ist eine soziale Emotion. Sie entsteht, wenn ein Kind das Gefühl bekommt, nicht in Ordnung zu sein, so wie es ist.
Während Schuld bedeutet: Ich habe etwas Falsches getan, bedeutet Scham: Ich bin falsch.
Ein beschämtes Kind lernt also nicht, was es besser machen könnte – es lernt, dass es selbst das Problem ist.
Und genau das prägt das Selbstbild ein Leben lang.
Solche Botschaften führen dazu, dass Kinder sich nicht nur schuldig, sondern innerlich minderwertig fühlen.
Ein Kind, das sich schämt, wird still, senkt den Blick, zieht sich zurück oder reagiert überangepasst.
Manche Kinder erröten oder vermeiden Situationen, in denen sie auffallen könnten.
Ihr Körper zeigt, was ihre Seele erlebt: den Wunsch, zu verschwinden.
Im Gehirn wird dabei das Stresssystem aktiviert – Lernen, Verstehen und emotionale Entwicklung sind in diesem Zustand blockiert.
Kinder sind abhängig von ihrer Bindungsperson. Wenn genau diese Person sie beschämt, entsteht ein innerer Konflikt:
Ich brauche dich – aber ich fühle mich schlecht durch dich.
Um die Beziehung zu sichern, entwickelt das Kind oft Strategien: angepasst sein, vermeiden, überperformen.
Das führt zu Selbstbildern wie:
„Ich darf keine Fehler machen.“
„Ich muss perfekt sein.“
„Ich bin nur liebenswert, wenn ich alles richtig mache.“
Diese Muster tragen viele Erwachsene noch heute in sich.
Scham verliert ihre Macht, wenn sie sichtbar wird.
Ein Kind, das spürt „Ich werde verstanden“, kann seine Scham loslassen.
Und ein Erwachsener, der erkennt, woher sein eigenes Schamgefühl stammt, kann den Kreislauf unterbrechen – und seinem Kind das geben, was er selbst gebraucht hätte: bedingungslose Annahme.
Ab wann empfinden Kinder Scham?
Etwa ab dem 18.–24. Lebensmonat. Dann beginnen Kinder, sich im Spiegel zu erkennen und zu verstehen, wie andere auf sie reagieren.
Ist Scham immer negativ?
Nein. In gesunder Form hilft Scham, Grenzen zu spüren und Mitgefühl zu entwickeln. Sie wird erst schädlich, wenn sie mit Abwertung oder Isolation verknüpft ist.
Was tun, wenn ich mein Kind beschämt habe?
Ehrlich sein. Sag: „Das war nicht fair von mir. Es tut mir leid.“ – Das stärkt Vertrauen und zeigt, dass auch Erwachsene lernen dürfen.
Beschämung in der Kindheit prägt unser Selbstbild – oft über Jahrzehnte.
Doch das Bewusstsein darüber ist der erste Schritt zur Heilung.
Wenn wir beginnen, Scham mit Mitgefühl zu begegnen – bei uns selbst und unseren Kindern – entsteht ein Raum, in dem Fehler keine Gefahr mehr sind, sondern Teil des Wachsens. 🌱